Sprachloses Staunen bereits an der Kasse: Die junge Frau drückt mir meine Auswanderungskarte in die Hand, darauf meine Identität für die kommende Stunde „Carl Laemmle“. Ich muss kurz schlucken: „Der Carl Laemmle? Gründer von Hollywood?“ – „Ja!“
Die junge Frau kann nicht wissen, dass ich in diesem Jahr bereits zum dritten Mal auf sein Schicksal stoße: Vor wenigen Wochen habe ich die Biografie “Der Mann der Hollywood erfand” gelesen, zudem bin ich auf die ARD-Reportage von Prof. Hans Beller gestoßen, die schon vor Jahren den schwäbischen Emigranten portraitiert hat. Und heute erneut – das kann doch kein Zufall sein?
Ich will einen Indianer sehen
In den letzten beiden Jahrhunderten haben mehr als sieben Millionen Menschen Deutschland verlassen – die meisten sind wie Carl Laemmle über Bremerhaven ausgereist. Im Deutschen Auswandererhaus Bremerhaven werden die Schlüsselmomente ihres Lebens nachgezeichnet. Meine Reise beginnt im Wartesaal der dritten Klasse: 1883 stellt Carl Laemmle seinen Antrag auf eine Auswanderung. Mit jugendlicher Naivität „Ich will einen Indianter sehen“ startet seine Reise ins Abenteuer. Im Dezember kommen die Auswanderungspapiere. Gleichzeitig verliert Carl die deutsche Staatsbürgerschaft. Am 28. Januar 1884 besteigt er im schwäbischen Laubheim den Zug an die Nordseeküste und steht wie ich an der Kaje in Bremerhaven.
Kein „Auf Wiedersehen“, sondern „Lebe wohl“
Es ein nebliger Tag, der Himmel grau verhangen. Dicht gedrängt starren die Menschen auf die Gangway des Schnelldampfers „Lahn“, der in Kürze ablegen wird. Überall stehen Wagen mit Gepäck, Waren, die verladen werden, das Geräusch der rollenden Maschinen übertönt das babylonische Sprachengewirr. Szenenwechsel: Plötzlich wechsle ich von der passiven Zuschauerrolle auf die andere Seite und muss wie Carl Laemmle die Gangway erklimmen. Mein Herz schlägt bis zum Hals, mit jeder Stufe wird es schwerer. Vor mir haben Hunderttausende diese Treppe erklommen: Die Gangway der Tränen. Die Meisten sagen nicht „Auf Wiedersehen“, sondern „Lebe wohl“. Sie wissen, das ist ein Abschied für immer. Oben angekommen drehe ich mich ein letztes Mal um und sehe hinunter auf die wartende Menge. Jetzt gibt es kein Zurück.
Die Enge der dritten Klasse
An Bord des Schiffes werfe ich einen unsicheren Blick auf die kalten Metallflure des Zwischendecks. Dies wird in den nächsten acht Tagen mein „Dampfer zu einem neuen Leben“ sein. Die bedrückende Enge und die Angst der Einsamkeit ist in der dritten Klasse gut zu spüren: 900 Menschen Tag und Nacht auf engstem Raum, Fremde mit dem gleichen Ziel: Arbeit und Land. Ich stelle mir Carl Laemmle vor, acht Geschwister waren bereits gestorben. Sein Vater leiht sich das Geld, damit zumindest Carl seine Chance auf ein neues Leben hat, und kauft für ihn das Ticket für die Passage.
Kreidezeichen für die Behinderten
Stellvertretend für meinen „Helden“ komme ich auf „Ellis Island“ an, der Einwanderungsbehörde im Hafen von New York. 24 Mio. Emigranten mussten hier durch, allein im Jahr 1907 wanderten eine Million Menschen in die USA ein. Die gekachelten Flure vermitteln ein verstörende Atmosphäre. Das laute Pochen eines Herzens, das im Museumsgang nach Ellis Island zu hören ist, verstärkt die Angst der Migranten. Ärzte beobachten die Ankömmlinge beim Treppensteigen, markieren Kranke und Behinderte mit einem Kreidezeichen.
Carl Laemmle produziert 2.000 Filme
Hunger und Erschöpfung sind zu spüren, die Angst vor dem fremden Land, dem Neuanfang. Innerhalb weniger Minuten muss ich die Fragen des Einbürgerungstestes beantwortet. Dann das erleichternde Gefühl: Wie Carl Laemmle habe ich es geschafft. Weniger Glück haben viele andere: Jedem 10. wird die Einreise verweigert.
Kurz darauf stehe ich in der „Grand Central Terminal“ von New York. In einem Fahrkartenschalter wird die Biografie von Carl Laemmle und 17 anderen Einwanderern illustriert und von einem Sprecher detailliert erklärt: Der junge Schwabe nutzt alle Chancen, die das neue Land ihm bietet, kauft ein Kino in Chicago und begreift das Potential des neuen Mediums. Er gründet eine Verleihfirma, sammelt die unabhängigen Kinobesitzer und wird selbst zum Produzenten. In Hollywood gründet er die Universal Studios und produziert über 2.000 Filme.
Im Wartesaal des Glücks
Berührt sitze ich im Wartesaal des Glücks und will gar nicht mehr zurück. Jetzt kann ich verstehen, warum das Deutsche Auswanderhaus in Bremerhaven als „Bestes Museum Europas“ ausgezeichnet wurde. Obwohl es nach meinem Eindruck gar kein Museum, sondern die gelungene Inszenierung deutscher Geschichte ist. Die körperliche Erfahrungen, das emotionale Erleben der einzelnen Schicksale macht dieses Haus so einzigartig. So wie das Zitat von Heinrich Heine im Erweiterungsbau, in dem 300 Jahre Einwanderungsgeschichte nach Deutschland präsentiert wird :
„Den jeder einzelne Mensch ist schon eine Welt, die mit ihm geboren wird und mit ihm stirbt, unter jedem Grabstein liegt eine Weltgeschichte“.
Gut gemacht! Da hast Du meine Neugier geweckt… Müssen wir sehen…!
Herzlichen Gruß an Ilona u Dich!
Marlen
Danke, liebe Marlen für das Feedback – für mich gehört das Auswandererhaus zu den spannendsten Museumsbesuchen seit Jahren – absolut empfehlenswert.
Viel Spaß beim Erleben und herzliche Grüße auch an Gert!
Rainer
Wie sieht das neue Projekt aus das du damit verbindest?
Du machst ja sicher nicht nru zum Spass solche “geschichtliche Untersuchungen”
Lieber Hans,
Du bist der Mann der guten Fragen: Ich arbeite seit längerem an einem neuen TV-Konzept zum Thema “Heimat”. Dafür habe ich auch in Bremerhaven recherchiert. Für mich illustriert das Deutsche Auswandererhaus sehr gut dieses Thema.
Liebe Grüße nach Chile
Rainer